Sonntag, 6. Oktober 2013

Orga, SL, NSC, SC - Wat nu?

Nachdem eine SL, die ich durchaus schätze, einen solchen Artikel verfasst hat - einzusehen hier:
http://cthulhy.myblog.de/,
dachte ich mir, ich schreibe einfach mal meine Meinung dazu nieder. In der Hoffnung, sie zur Diskussion zu stellen und vielleicht auch andere Blickwinkel kennen zu lernen. Unter anderem die Definition des Spielleitercharakters finde ich enorm wichtig. Da wir inzwischen wieder einmal Schwierigkeiten mit einem solchen in einer Runde haben, habe ich mir dazu mal ein paar Gedanken gemacht.

Die Begriffe und Definitionen, die ich hier aufstelle, sind Erfahrungswerte. Sollte also jemand andere haben: Immer her damit! ;)


Fangen wir doch einfach mal bei der Orga an.
Orga ist eine Abkürzung (wie so viele dieser Begriffe) für Organisation bzw. Organisationsteam. Hier finden sich eigentlich jene, die den Laden materiell am Laufen halten. Für die Runde hier sind das mehrere Vereinsmitglieder; für eine weitere handelt es sich um wenig definierte Helfer; für Cons, also Conventions, können das auch schon einmal bunt zusammengewürfelt Leute sein, die gern einkaufen und kalkulieren. Oder auch Personen, die gern basteln. So zähle ich mich häufig ebenfalls zu Orga.
Ergo kümmert sich eine Orga eigentlich um alles, was zum materiellen Rahmen gehört: Der Spielort mit der Miete und den Schlüsseln, vielleicht einer dazugehörigen Versicherung. Ebenso Requisiten und Dekorationen und noch ein paar Dinge mehr. Üblicherweise spielt sich ihre Aufgabe also vor oder zwischen den Spielen ab.

Eine Orga kann auch ein Überbegriff für eine Spielleiterrunde sein, die sich nebenher um die Organisation kümmert bzw. auf der Grundlage eines eigentlichen Orga-Teams arbeitet. Hier spricht man auch gern von einer "Orga", um das Team als solches abzugrenzen. Die Unterscheidung verschwimmt mit den Jahren etwas, da SL und Orga meistens dann in Personalunion auftreten. Es ist schlicht und ergreifend einfacher, wenn diejenigen, die planen, auch realisieren.


Dann die SL.
Der Spielleiter hat eine eigentlich besonders undankbare Aufgabe. Während man den Beitrag der Orga meistens ziemlich unmittelbar sieht, ist das Ergebnis der SL-Bemühungen meistens nur, dass der Spielabend oder die Convention einfach läuft. Der Plot also logisch funktioniert und kein besonderes Rätselraten entsteht.

Hier entstehen die meisten Konflikte. Unterschiedliche Spielauffassungen können ebenso aufeinanderprallen wie verschiedene Ansichten über den Plotverlauf. Definitionen, Abläufe, Dramaturgie und vieles mehr sind subjektiv gefärbt und damit gefährlich zu diskutieren.
Ein überzogenes Beispiel: Eine Blumenwiese in einem Horror-Szenario ist eben nicht jedermanns Sache, auch wenn fleischfressende Killerblumen drinsitzen. Obwohl... so überzogen ist das Beispiel irgendwie gar nicht.

Aber nicht allein das Funktionieren des Plots ist ihnen auferlegt, sondern auch der Schritt zurück. In vielen Szenarien spielen die Spiel-Leiter wie Spieler mit und verkörpern unter anderem leitende oder herrschende Charaktere. Insbesondere beim Vampie stellte es höhere Anforderungen an die Spielermenge und die betroffene SL dar, würde sie stets außerhalb der Szenerie und ständig auf Abruf herumlaufen müssen. Manchmal macht es mehr Sinn, aber insbesondere beim ("klassischen", Intrigen-) Vampire muss nicht so viel geklärt werden. Ein Charakter mehr oder weniger macht sich dann durchaus bemerkbar.

Damit einher geht die Verantwortung, den Spielern nicht den Plot aus der Hand zu nehmen. Eine spielende Spielleitung steht vor einem enormen Dilemma: Sie muss den Spielern dabei zusehen, wie diese an einem Plot herumkauen und -rätseln, von dem die Leitung die Lösung und die beabsichtigte Richtung kennt. Verdammt gut kennt, denn sie hat oft auch die Nebenwege mit bedacht und beschrieben. Die geistigen Krämpfe, wenn man dabei zusehen muss, wie das eigene, wohlüberlegte Gedankenkonstrukt vergewaltigt und verdreht wird, sind beachtlich und schmerzhaft. Und doch muss eine Spielleitung die Finger stillhalten und konsequent reagieren. Leuten den Hals umdrehen geht einfach nicht, auch wenn sie gerade in eine absolut falsche Richtung laufen. Ganz besonders, wenn ihnen diese Richtung plausibel ist. Und insbesondere in Rolle eine besondere Herausforderung.

Wie heißt es so schön: Stell sie an eine Kreuzung - und sie werden ein Loch buddeln.
Wo die Orga ein sichtbares Ergebnis erzielt, muss die Spielleitung also ihren Erfolg aus der Zufriedenheit der Spieler und dem Gelingen des Spiels ziehen. Und wenn es bedeutet, dass sie im Erdkern ankommen.

Ich vermute heute, man muss irgendwie dafür geboren sein, sich dieser Selbstkasteiung hinzugeben. Ich habe bereits mehrere Einsätze als SL und Orga hinter mir und ja: Ich bin davon überzeugt, dafür muss man ein Bühnenmensch sein.
(Bühnenmenschen sind diejenigen Individuen, die mit dem Applaus der Menge allen geschehenen Stress des Aufbaus und allen zukünftigen Stress des Abbaus abwerfen. Ihre Erfüllung ist es, wenn die Show einfach läuft. Die andere Variante nennt man üblicherweise Rampensau oder Publikumsliebling, aber darüber vielleicht ein andermal.)


Wo ordnet sich nun der Spielleitercharakter ein?
Gerade im Vampire hat eine Spielleitung eine unglaubliche Versuchung vor sich: Alles, was er erreichen möchte, liegt nun offen vor ihm. Nur schade, dass sie wie alle anderen und Aladin auch nur die Wunderlampe, nicht aber das Gold nehmen dürften. Manche nehmen das Gold, manche die Wunderlampe und manche beides. Und die vierte Gruppe setzt sich in die Höhle und weint, weil sie sich beides versagt.

Ich habe oben geschrieben, dass Spielleiter die Finger stillhalten und eine gewisse Leidensbereitschaft mitbringen müssen. Das gilt auch für NSC. Nun hat es das Vampire zusätzlich so an sich, dass häufig bestehende Charaktere plötzlich in das Schema eines Spielleitercharakters fallen. Damit haben sie zweierlei: Die Verantwortung für das Funktionieren des Plots und die Verantwortung dafür, dass die Spieler ihren Handlungsfreiraum nutzen können. Was bedeutet das? Sie sind de facto NSC, die sich ihre eigenen Vorgaben geben können und müssen.

Das kann in enorm strikter Selbstkasteiung enden oder in der Verherrlichung des eigenen Charakters. Es ist mehr als einmal geschehen, dass ein solcher Charakter plötzlich Erfahrungswerte, Status und dergleichen in einem Maß gewinnt, dass es den anderen Beteiligten schwindelt. Auf der anderen Seite habe ich inzwischen mehrfach Spielleiter erlebt, die ob ihrer Unbeweglichkeit das Heulen bekommen.

Eine dritte Gruppe kenne ich seit kurzem: Die plottende Spielleitung. Entgegen aller üblichen Vorgaben und Ansichten fand sich der Spielleitercharakter, nachdem er unangreifbar durch einen Aufstieg wurde, als Plottreibender wieder. Problematisch dabei: Es war den Spielern nicht mehr möglich, an dem Plot teilzuhaben, da die Spielleitung wie eine Mauer dazwischensaß. Ebenfalls eigentlich eine Unmöglichkeit, denn die Spielleitung macht Plot für die Spieler, nicht für anderen Leiter.

Es ist und bleibt eine schwierige Balance, doch begreift man Spielleitercharaktere als Katalysator des Spielgeschehens, wird sie greifbarer. Er ist anwesend und treibt das Geschehen voran, nimmt teil und vermittelt. Das bedeutet natürlich, dass der Charakter weltoffen und kommunikativ sein muss. Der verschwiegene Grummelbart eignet sich nicht als Spielleitercharakter, außer er ist ein besonderer NSC.

Einschub diesbezüglich:
Tatsächlich gibt es nun noch eine weitere Entwicklung, die hier zu Sprache kommen kann. Denn in einem mir näher bekannten System sind seit einige Zeit die SL-Charaktere zu SCs gestuft worden, heißt es zumindest. Das würde auch einige plottende Spielleitungen erklären, die sich in letzter Zeit in meinem Bekanntenkreis häufen.

In meinen Augen ist das ein großartiger Fehler. - Warum?
Nicht allein, dass die Spieler (SCs) in jedem Falle Vorsicht entwickeln, dem SL-Charakter "ans Bein zu pissen", auch die Möglichkeiten zu handeln sind für eine SL um vieles umfangreicher. Verhältnisse und Verknüpfungen können direkt und ohne Ankündigungen oder Umwege realisiert werden; egal in welcher Größenordnung Aktionen angesetzt werden, sie sind sofort beurteilbar und werden nicht weiter hinterfragt; ... es finden sich viele Beispiele, wieso auch eine verantwortungsbewusste Spielleitung im SC-Status eine Menge Vorteile gegenüber dem Spieler hat. Diese auszubalancieren ist nahezu unmöglich. Auch Grenzen zu definieren wird schwer, denn hat nicht die SL das letzte Wort darüber, was möglich ist oder sinnvoll?

Wenn nun der Charakter zusätzlich einen höheren Rang in der Spielwelt einnimmt als der Spieler, ist die Schwierigkeit extrem erhöht, freie Aktionen zu unternehmen. An wen soll er sich wenden, wenn er hinter dem Rücken der SL agieren möchte? Wen soll er ansprechen, wenn Konflikte mit Charakteren auftreten, die mit der SL befreundet sind?
Viele dieser Fragen bleiben in der Folge unbeantwortet oder werden selbstständig vom Spieler bearbeitet, indem er einfach nichts unternimmt und sich die Frage sowie die Aktion spart.

Eine gute Alternative? Nope. Keine Ahnung. Ausgenommen: SL-Charaktere nicht zu SCs machen.


Ebenfalls ein Opfer, aber dennoch mit weniger Verantwortung belastet: Der Nichtspielercharakter oder NSC.
Zwar finden sich Orga, SL und NSC häufig in Personalunion, aber letzten Endes bleibt der NSC eine Kategorie für sich.
Und hier trennen sich die spätestens Wege zwischen der Meinung der oben schon verlinkten SL und meiner eigenen. (Hatte ich nicht bereits irgendwas von Spielauffassungen und Konflikten geschrieben? ;) )

Denn ein NSC hat durchaus eine Aufgabe und muss im Sinne der Spielleitung funktionieren. Dennoch bleibt auch bei einem äußerst detaillierten Briefing immer eine persönliche Note. Ebenso wie ein Schauspieler eine persönliche Note in einen Film bringt und vielleicht sogar neben dem Drehbuch improvisiert.
Und wie gute Schauspieler sollte man auch gute NSC das tun lassen.

Während cthulhy der Meinung ist, dass ein NSC "nicht gespielt werden darf, sondern funktionieren muss, nach Plan", bin ich der Meinung, dass ein NSC durchaus gespielt wird.
Denn anderenfalls tritt genau das Phänomen ein, das Spielern und Spielleitern die Laune verdirbt: Dass unterschieden wird. "Den kann ich töten, das ist ein NSC. Den da lieber nicht, das ist ein SC.", ist eine häufig gefundene Überlegung. Doch genau diese Überlegung sollte für ein gemeinsames Spiel gar nicht existieren.

Ein NSC hat nur einen zusätzlichen Rahmen:
  • Er muss der SL rückmelden, was er tut;
  • er muss sich klaglos damit abfinden, dass sein Charakter unter Umständen ein Opfer des Plots wird und kein Held;
  • er kann nicht einfach mitspielen bzw. -plotten, außer er hat die Erlaubnis bzw. einen Handlungsspielraum dazu;
  • er muss sich an Vorgaben halten und kann nur im begrenzten Rahmen seinen persönlichen Spaß ausleben. 
Trotzdem hat auch ein NSC eine Geschichte, einen Überlebensinstinkt, ein persönliches Ziel, Ängste und dergleichen. Wenn der Charakter in eine unabsehbare Situation gebracht wird, muss er handeln können - dafür muss er gespielt werden, nicht nur funktionieren. Ebenso ist die Tiefe und Art des Spiels eine andere, wenn die Rolle auf Funktion reduziert wird. Ein NSC, der heulend am Straßenrand den Tod seiner fünf Kinder durch Orks beklagt, muss gespielt werden. Funktioniert er nur, vermittelt er keineswegs die Verzweiflung, die die Spieler dazu antreiben soll, den Charakter zu trösten, mitzunehmen und vielleicht sogar gegen die Orks zu ziehen. Was genau diese Rolle tut, wenn sie mit einem friedlichen Ork konfrontiert wird oder ähnlichen Extremen, kann in seiner Vielfältigkeit gar nicht im Voraus bestimmt werden.

Was viele Spielleiter und auch Spieler gern vergessen: Hinter einem NSC steckt auch immer ein Mensch. Sicherlich kann man im Alltag auf die Funktion Sekretärin begrenzt werden, aber letzten Endes ist es ein besseres Gefühl, auch mit seinen weiteren Talenten betrachtet zu werden. (Und ich meine hier nicht die von Lewinski! ;) )


Zum Schluss das zahlende Publikum: Der Spielercharakter oder SC
Warum ich zahlendes Publikum schreibe?
Weil es letzten Endes genau das ist: Immerhin gibt es den oben beschriebenen Apparat an Personen hauptsächlich, um eine Geschichte zu konstruieren, die sie interaktiv erleben können.

Und da stellt sich natürlich die Frage: Was darf ein SC eigentlich?
Die Antwort ist simpel: Im Prinzip alles.
Natürlich gibt es ein paar Tabuthemen (gespielte Vergewaltigungen, Nahkampf bei Ungeübten und ohne Einwilligung, tatsächliche Verletzungen oder Gefährdungen, ...), aber letzten Endes darf sich ein Spielercharakter frei in der ihm präsentierten Spielwelt bewegen. Er trägt weitestgehend selbst die Konsequenzen seines Handelns. (Mal ausgenommen gnädige Spielleitungen und dergleichen.)

Und auch wenns wehtut: Genau das sollte er auch dürfen.


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