Mittwoch, 5. Dezember 2018

Nerve wracking

Heute gibt's wieder was sehr nachdenkliches und teilweise auch negatives. Wer's nicht mag: Einfach zum nächsten Artikel springen; ich nehms keinem übel ;)

Die Leute, die mich kennen, wissen, dass es immer wieder Schwierigkeiten mit DEM Nachbarn gibt, und dass schon viele Sachen versucht wurden, das Problem zu lösen. Nachdem ich Schwierigkeiten hatte zu erklären, wo das Problem genau liegt, versuche ich es heute in einem kleinen Bericht aus der Kategorie "Stell dir vor".
Zugegeben. Es ist auch ein Versuch wieder runterzufahren. Ich habe mich heute krankgemeldet, weil meine Nerven gerade nicht mal mehr eine Busfahrt mitmachen. Und ja, ich werde ein bisschen übertreiben.



Stell dir vor, du hast nach einiger Zeit eine Wohnung gefunden. Vorher gab es Gelegenheitsunterkünfte, Sozialwohnung, von der du genau wusstest, dass du da bald ausziehen wirst müssen. Du hast dich durchgebissen, bist angekommen, vielleicht noch nicht so ganz... aber es ist deine Wohnung. Du hast einiges verloren auf dem Weg, aber auch ein paar Dinge gefunden, die das Leben interessanter machen.
So oder so: Solange alles gut läuft, ist es DEINE Wohnung.

Du hast auch einen Job gefunden. Der ist zwar befristet, gering bezahlt, und nicht immer ganz einfach, aber es ist DEIN Job. Meistens liebst du ihn. Manchmal hasst du ihn auch, aber selten wirklich mit der Verachtung, die ein Weggehen begründen würde. Die Leute sind okay bis cool, das Leben läuft. Und es ist DEIN Leben.
Cool.

Dein Tag war nicht ganz einfach. Es war viel los, du hast auch noch ein paar Dinge extra erledigen müssen, aber du hast es eigentlich ziemlich gerne übernommen. Du bist müde daheim angekommen, hast dir ein anständiges Abendbrot gegönnt. Und weil das deine Wohnung hergibt, hast du dich dann vor den Bildschirm gesetzt, gechattet und Videos geschaut. Ein schöner Ausklang.

9:45 Uhr.
Das Kissen ruft. Es ist immerhin schon fast zehn, morgen beginnt der Tag um sechs. Das ist okay, funktioniert eigentlich immer gut.
Du gähnst und streckst dich, machst dich bettfertig und - zack, Augen zu. Einfach so schlafen ist etwas wunderbares.

11.30 Uhr.
Eine Tür schlägt zu und reißt dich aus dem Tiefschlaf. Du bekommst noch das Echo im Treppenhaus mit - die Tür ist mit Wucht ins Schloss gekracht. Gerappel nebenan verkündet: DER Nachbar ist zuhause. Aber es bleibt erst einmal ruhig. Du legst dich wieder hin.

11.45 Uhr.
Gerade im Halbschlaf, du willst dich gerade umdrehen, da rummst es noch einmal. Du hast den Knall eher gespürt als gehört. Schlüsselklappern, unverständliches Geschimpfe und Schritte im Hausflur verraten: Der Nachbar hat die Wohnung verlassen.
Dein Puls hat die ruhigen 70er verlassen und tippt kurz bei den 90ern an.
Es besteht die Hoffnung, dass er heute nicht mehr zurückkommt. Du richtest dein zerknautschtes Kissen und versuchst zu schlafen. Der Adrenalinpegel hat etwas dagegen. Du nimmst also dein Smartphone zur Hand und beschäftigst dich mit ein bisschen sinnlosem Surfen.

12.00 Uhr.
Das Smartphone rutscht dir vor Schreck aus der Hand, als die Tür des Nachbarn im Rahmen einschlägt und das Haus erschüttert. Schläge gegen die Wand auf der anderen Seite und Gebrüll verkünden, dass irgendetwas ihn stört.
Du kennst das schon, er hat zu anderen Gelegenheiten bereits gegen die muslimische Familie dort gewettert. Normalerweise ist das Problem nach ein paar Minuten erledigt. Seltener eine Stunde.
Du nimmst deine Telefon, seufzst und wartest. Puls und Adrenalinpegel sagen: Stress. Du weißt ganz genau, auch wenn es ruhig wird, es wird mindestens eine Viertelstunde dauern, bis du auch nur an Schlafen denken kannst.
Du brauchst den Schlaf - morgen wird es nochmal interessant. Aber es wird schon reichen.

12.30 Uhr.
Der Nachbar hat eine neue Strategie.
In einer Lautstärke, die ungefähr dem entspricht, was du direkt vor deiner eigenen Box zu hören pflegst, schallt die deutsche Nationalhymne durch die Wand und durch das Haus. Ihr folgt "Freude schöner Götterfunken", danach weitere "Klassiker".
Bei Musik kannst du schlafen, also drehst du dich um und genießt die Beschallung. Endlich kommt wieder ein bisschen Müdigkeit durch. Die Augenlider werden schwer und...
BÄM!
Das Geräusch kennst du, das war ein Topf an einer Wand. Das Schreckzucken kennst du auch. Der Puls hat sich von gemütlichen 80 auf 100 eingepegelt. Adrenalin kribbelt durch den Körper. Du bist gleichzeitig müde und völlig elektrisiert.
Weitere Töpfe folgen, der Nachbar schreit Wörter wie "Arschloch" und "Sausack" in die Welt.

12.45 Uhr.
Die Blase drückt dich, wohl auch eine Wirkung der kleinen Schocks, die mit jedem neuen Zyklus an Wurfgeschossen und Gebollere deine Wohnung erschüttern. Und er trommelt ja noch nichtmal in deine Richtung...
Kurz aufs Klo, danach holst du dir ein Buch, denkst du dir. Du ziehst die Spülung - und hast sofort die Aufmerksamkeit deines Nachbarn. Vollständig.
Jetzt ist es die Wand zu deiner Seite, die traktiert wird.
Etwas klirrt hörbar, allerdings in deiner Wohnung. Es sind die Gläser in deinem Küchenschrank.
Du rufst die Polizei an, nicht zum ersten Mal in diesem Jahr.
Die Antwort am anderen Ende ist genauso deutlich wie beim ersten und beim letzten Mal und denen dazwischen: "Kein Gefährder, klären Sie das mit ihm direkt". Du hast ja - wie sonst auch - die Option, die Sache an den Vermieter zu melden. Der ist unter Betreuung, und du willst die Wohnung auch nicht gefährden. Du hast ja nur die eine! Und beim Nachbarn klingeln? Nunja, immerhin ändert das kurzfristig die Richtung der Beleidigungen und Wurfgeschosse - Richtung Tür.
Du beißt die Zähne zusammen und hoffst, dass mehr Nachbarn anrufen.
Du nimmst dir das Buch, aber kannst dich nicht aufs Lesen konzentrieren. Der Puls tippt an den 120. Gleichzeitig könntest du sofort schlafen, wenn der Idiot da drüben nur RUHIG wäre.
Du beginnst zu begreifen, wieso Morde aus dem Affekt heraus so häufig sind.

02.00 Uhr.
Du wunderst dich kurz darüber, wie ausdauernd ein Mensch sein kann. Inzwischen hat er sich wieder der Familie auf der anderen Seite zugewandt. Keine Musik mehr, dafür Gebrülle, Poltern, Trommeln gegen die Wand.
Plötzlich, wie aus heiterem Himmel, wird es ruhig.
Nur leises Geklapper, als würde er sein Schlachtfeld aufräumen. Hörbar, aber doch sehr dezent: Musik.
Keine fünf Minuten später schrillt die Klingel des Nachbarn. Du wunderst dich noch, als Schritte das Treppenhaus hinauf kommen. Ein Funkgerät auf höchster Lautstärke quäkt. Hat endlich jemand?
Ja, jemand hat.
Die Polizei ist hier.
Der Nachbar bittet sie freundlich herein, als sie ihn an der Tür auf die Ruhestörung ansprechen. Er betont lautstark, er habe gar keine laute Musik angehabt und auch sonst wisse er nicht, was das Problem sein soll. Könntest du Steno, du könntest seinen Teil des Gespräches mitschreiben.
Die Beamten gehen kurz darauf wieder, etwas weiter unten wird noch einmal gesprochen, ehe sie das Haus endgültig verlassen.

02.15 Uhr.
Neue Strategie. Der Nachbar springt als gelte es, durch die Decke zu brechen. Er weiß ganz genau, wer die Beamten gerufen hat. Und er rächt sich.
In deinem Küchenschrank klingeln die Gläser, aber deine Gedanken sind bei den Leuten da unten. Vielleicht aber ist es genau das, was es braucht, um das Ganze endlich zu beenden.
Du erwischst dich dabei, wie du am Tisch sitzt und stumpf mit den Fingernägeln auf der Platte einen monotonen Rhythmus klopfst. Der ganze Körper ist auf Hochspannung. Der Geist will eigentlich nur schlafen.

03.00 Uhr.
Die Fingerspitzen schmerzen vom Trommeln, aber das kommt nicht mehr wirklich bei dir an.
Der Nachbar hat von den Leuten unter ihm abgelassen und trommelt wieder gegen die Wände der Familie.
Dir ist zum Heulen zumute und du nutzt die Gelegenheit, genau so bei der Polizei anzurufen. Vielleicht ist es das, was es braucht.
Die Auskunft ist die gleiche wie vor ein paar Stunden.
Du legst dich hin und starrst an die Decke. Dein Hirn mag nicht mehr denken, knistert und vibriert nur noch mit den Schlägen von nebenan. Ohrstöpsel helfen nicht. Der Puls flattert weiter oberhalb der 100.

03.30 Uhr.
Entweder bist du kurz eingeschlafen oder das Hirn hat einfach kurz abgeschalten. Eventuell hast du dich auch einfach an das Trommeln gewöhnt. Jedenfalls geht dir der Schlag gegen die Leitungen von Heizung und Badewanne direkt in die Knochen. In deinen Ohren pocht der Herzschlag. Hast du geschrien? Du hast keine Ahnung. Du weißt nur, dass du schweißnass bist vor Panik.
Und es war kein Traum.
Denn das Gepoche geht noch ein paar Minuten weiter.

03.45 Uhr.
Es wird ruhiger. Anscheinend ist dem Nachbarn die Luft ausgegangen, denn er schimpft nur noch am Fenster. Du atmest auf.
Dein Körper hat noch nicht begriffen, dass es jetzt so etwas wie "Ruhe" gibt.

04.15 Uhr.
Dein Nachbar ist schlafen gegangen. Zumindest scheint es so, denn es ist still geworden im Haus.
Du bist wach.
Dein Herz klopft, als gäb es einen Marathon zu gewinnen, dabei liegst du einfach nur ruhig im Bett. Du zählst - 130 Schläge die Minute.
Du atmest, bewusst, um dich zu entspannen. Gehst Übungen durch.
Es ist ruhig, es ist gemütlich, ... dein Körper ist anderer Meinung und schiebt Panik.

05.00 Uhr.
Langsam nimmt deine Erschöpfung zu. Du bist drei oder vier Mal durch deine Wohnung gewandert, hast versucht zu lesen oder zu surfen, hast etwas getrunken und auch sonst alle Strategien ausprobiert. Keine hat gewirkt.
Du legst dich wieder hin und starrst die Decke an.
Dein Herz klopft immer noch schnell.
Du zählst. 100 Schläge.
Du atmest.

06.00 Uhr.
Der Handywecker reißt dich ermbarmungslos aus dem leichten Schlaf, der sich endlich irgendwann eingestellt hat. Wann, weißt du nicht. Es fühlt sich an, als hättest du ein Nickerchen von fünf Minuten nach vier Wochen mit 7 Arbeitstagen und kaum Schlaf gemacht.
Du kriegst die Augen nicht wirklich auf. Du machst den Wecker aus und folgst dem Automatismus deiner Morgenroutine. Es fehlt nicht viel und du hättest dir mit Handcreme die Zähne geputzt.
Der Kaffee zum Frühstück stellt sich als die mieseste Idee überhaupt heraus. Du zitterst danach, als hättest du eine Herzschwäche. Traubenzucker und viel Wasser gleichen ein bisschen aus.
Aber du siehst der Tatsache ins Auge: Heute wird ein harter Tag.
Trotzdem nimmst du Schlüssel und Tasche und verlässt das Haus.

06.15 Uhr.
Als auf dem Weg zum Bus eine Autotür zuschlägt, zuckst du zusammen als hätte dir jemand ins Ohr gebrüllt. Der Körper ist sofort wieder auf höchster Alarmstufe. Es fühlt sich an, als würde er knistern vor Anspannung.
Du versuchst dir klarzumachen: Da ist nichts. Nichts, was ein Problem wäre. Alles gut.

06.25 Uhr.
Der Bus ist voll. Lachende Kinder, schubsende Erwachsene, motzende Rentner.
Du magst das schon an normalen Tagen überhaupt nicht, heute ist jedes Geräusch und jeder Schubser wie ein Schlag in deine Magengrube. Die Kopfhörer helfen nicht, die Musik irritiert schlimmer als die Menschen um dich herum. Du nimmst sie wieder heraus und versuchst dich in dir selbst zu verkriechen.
Auch das funktioniert nicht.
Dir ist übel. Magensäure steigt hoch.

06.35 Uhr.
Jetzt solltest du umsteigen.
Du flüchtest aus dem Bus, ringst nach Luft. Dein Brustkorb fühlt sich an, als hätte ihn jemand einbetoniert.
Die große Kreuzung an der Bushaltestelle besteht aus diffusem Rauschen, das sich exakt so anfühlt wie das Rauschen in deinen Ohren und in deinem Bauch.
Du machst einen Schritt zum Geländer hinüber und hast Mühe nicht umzufallen.
Arbeit?
...

Du läufst zurück, noch einmal Busfahren erträgst du nicht.

Als du zuhause bist und die Tür zu DEINER Wohnung zumachst, fühlt sich das falsch an.
Beim Anruf auf Arbeit vergisst du deinen eigenen Namen mit dazuzusagen, als du der Sekretärin einen guten Morgen wünschst und sagst, dass du nicht kommst. Du brauchst zwei Anläufe um zu kapieren, was sie von dir will, als sie nach dem Namen fragt.

Und dann steht dein Nachbar im Treppenhaus und brüllt, dass er demnächst die Polizei ruft, wenn es nach 22 Uhr nicht ruhig ist und dass er es den illegalen Immigranten schon zeigen wird.

Du fängst an zu kichern.
Der Moment ist so absurd, dass es einfach nicht anders geht.
Gleichzeitig weinst du.
Du bist einfach erschöpft, geistig, seelisch, körperlich.

Und bist so unglaublich erleichtert, als er endlich die Tür hinter sich zumacht und auf Arbeit geht.

Und dann wird dir klar -
So oder so: Morgen ist auch noch ein Tag.

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